Es ist offensichtlich, dass die
Bulgarische Kirche vor 1872 dem Patriarchat von Konstantinopel angehört
hatte. Deshalb konnte die einzige kanonische Quelle der Autokephalie der
Bulgarischen Kirche ein Beschluss eines Landeskonzils der Kirche von
Konstantinopel sein. Solch einen Beschluss gab es bekanntlich nicht.
Aus Sichtweise der kirchlichen Kanones konnte die selbstverkündete
Autokephalie der Bulgarischen Kirche bis zu ihrer Anerkennung durch die
Ökumenische Patriarchie somit nicht als legitim gelten.In Wirklichkeit
gibt die Geschichte dieser Anerkennung zu denken. Mehr dazu in der
Fortsetzung des Artikels von Mönchspriester Tichon (Vasilyev).
Russland
konnte in dem Konflikt zwischen Konstantinopel und Bulgaren nicht
teilnahmslos bleiben. Obwohl es mit der bulgarischen Volksbewegung
sympathisierte, hielt es zugleich eine Unterstützung des Kampfes gegen
das Patriarchat von Konstantinopel für unmöglich, denn der russischen
Nahostpolitik lag das Prinzip der Einheit der Orthodoxie zugrunde. Nach
den Ereignissen in Konstantinopel 1866 begann die russische Diplomatie
eine aktive Suche nach einer versöhnlichen Lösung der bulgarischen
Kirchenfrage. Graf Ignatjew, der russische Gesandte in Konstantinopel
(1864–1877), erbat mehrmals entsprechende Direktiven vom Heiligsten
Synod; doch die oberste Leitung der ROK enthielt sich definitiver
Aussagen, da der Patriarch von Konstantinopel und dasÖkumenische Patriarchatkeinerlei
Anfragen an sie gerichtet hatten. In einem Antwortschreiben vom 19.
April 1869 an den Patriarchen von Konstantinopel, Gregor VI., äußerte
der Heiligste Synod die Meinung, dass beide Parteien bis zu einem
gewissen Grad – sowohl Konstantinopel, das die kirchliche Einheit
aufrechterhalten wollte, als auch die Bulgaren, welche legitimerweise
eine eigene nationale Hierarchie anstreben - Recht hätten.[1]
Patriarch
Gregor VI., einer der hervorragendsten Hierarchen des 19. Jahrhunderts,
versuchte aktiv, die befeindenden Parteien zu versöhnen. Im Mai 1867
schlug er den Bulgaren einen Kompromiss vor, das maximale Zugeständnisse
der griechischen Partei enthielt. Doch weder hätte dieser Vorschlag das
Problem der gemischten Diözesen gelöst, noch wurde er von den radikalen
bulgarischen Führern akzeptiert[2].
Die
russische Botschaft organisierte mehrmals griechisch-bulgarische
Verhandlungen, doch führten diese Versuche wegen der Gegensätzlichkeit
der Positionen zu nichts.
Zwar
standen die Verhandlungen 1869 kurz vor dem Durchbruch, aber der
Patriarch konnte sich nicht entschließen, der Loslösung der Bulgarischen
Kirche zuzustimmen. Schließlich wurde am 27. Februar 1870 seitens der
türkischen Regierung auf Grundlage der fast abgeschlossenen
Verhandlungen der berühmte Ferman verabschiedet, welcher die Bulgarische
Exarchie begründete.[3]
Wie es dazu kam, können wir aus einem Brief von Ignatjew an Nayden Gerow, Vizekonsul in Plowdiw erfahren:
„Gnädiger Herr Nayden Gerowitsch! In Ihrem Bericht№ 49 vom
8. Juli 1870 teilen Sie mir von Auslegungen mit, die in der
bulgarischen Bevölkerung von Philippopolis durch das Erscheinen des
Fermans zum kirchlich-bulgarischen Problem angeregt wurden.
Wenn
Sie mit der Angelegenheit vertraut sind, wird es Ihnen nicht
schwerfallen, die Bedenken unserer Glaubensgenossen bezüglich der
Ursachen, die die türkische Regierung zur Verabschiedung des Fermans
bewegten, zu zerstreuen. Ihnen ist wohl bekannt, dass die Bulgaren
diesen Verwaltungsakt, in dem sie zu Recht den Keim ihrer zukünftigen
Unabhängigkeit sehen, nur unserem unablässigen Drängen gegenüber Ali
Pascha, den wir auf die Gefahr von Aufständen im Falle weiterer
Verzögerungen hingewiesen hatten, zu verdanken haben. In diesem fast
voreiligen Erlass des Fermans seitens der Türken liegt die Erklärung für
die nicht nur scheinbaren, sondern wirklichen Widersprüche, die die
Bulgaren bemerken müssen, nämlich zwischen der allgemein feindlichen
türkischen Politik ihnen gegenüber und den Vergünstigungen, die ihnen
nach dem Ferman zuteilwerden.“
Sicherlich
erhoffte sich die türkische Regierung, ebenso wie die uns feindlich
gesonnene westliche Diplomatie, als sie unseren dringlichen Forderungen
nachgaben, dass die Verabschiedung des Fermans die Feindschaft zwischen
Griechen und Bulgaren verstärken und Letztere eventuell in ein Schisma
stürzen würde, was sie sowohl die Sympathien der anderen slawischen
Völker als auch und vor allem unsere Unterstützung kosten könnte. Nun
entscheiden die Besonnenheit und die Mäßigung der Bulgaren darüber, ob
es ihnen gelingt, die boshaften Erwartungen und Hoffnungen der Feinde
der Orthodoxie zu enttäuschen. Sie müssen abwarten, bis es zu einem
friedlichen Abkommen mit dem Patriarchat von Konstantinopel und zur
endgültigen Lösung der kirchlichen Frage kommt. Sicherlich hat letztlich
nur unsere Mediation den Ökumenischen Patriarchen bis jetzt davon
abgehalten, seine Drohungen wahrzumachen. Unsere warme Sympathie
gegenüber unseren Glaubensgenossen und Brüdern gilt als bewährteste
Garantie dafür, dass wir auch in Zukunft die Bulgaren nicht ohne
Beistand lassen, solange sie selbst nicht die Besonnenheit verlieren und
sich auf dem festen Boden der Orthodoxie halten …“[4]
Laut
Artikel 1 des Fermans wurde die gesamte Verwaltung der
geistlich-religiösen Angelegenheiten dem Bulgarischen Exarchat gewährt.
Es gab eine Reihe von Artikeln, die eine kanonische Verbindung des neu
errichteten Bezirks mit dem Patriarchat von Konstantinopel verlangte;
z.B. musste der Patriarch nach der Wahl des Exarchen durch den
Bulgarischen Synod eine Bestätigungsurkunde ausstellen (Art. 3); seines
Namens musste während des Gottesdienst gedacht werden (Art. 4); in
Angelegenheiten des Glaubensbekenntnis musste der Patriarch und sein
Synod dem Bulgarischen Synod die erforderliche Hilfe leisten (Art. 6);
die Bulgaren mussteт das heilige Myron
aus Konstantinopel erhalten (Art. 7). Artikel 10 bestimmte die Grenzen
des Exarchats als jene Diözesen, in denen die bulgarische Bevölkerung
überwog. In Bezirken mit gemischter Bevölkerung war geplant,
„Referenden“ unter der Bevölkerung durchzuführen, wobei für die
Einordnung zur Jurisdiktion des Bulgarischen Exarchats nicht weniger als
zwei Drittel der Stimmen erforderlich waren.
Dennoch
erklärte die Patriarchie von Konstantinopel den Ferman für unkanonisch.
Patriarch Gregor VI. äußerte seine Absicht, zum Thema Bulgarien ein
Ökumenisches Konzil einzuberufen. Als Antwort auf sein Sendschreiben an
die autokephalen Kirchen lehnte der Heiligste Synod der Russischen
Kirche den Vorschlag zur Einberufung eines Ökumenisches Konzils ab und
empfahl, den Ferman zu akzeptieren, denn er enthalte alle Hauptpunkte
des Projektes von Patriarch Gregor VI., wohingegen die Abweichungen
unerheblich wären.[5]
Die Regierung der Türkei lehnte die Einberufung eines Ökumenischen
Konzils ebenfalls ab, und Patriarch Gregor VI. verließ seine Kathedra.
Danach schrieb er in einem Brief an Andrej Murawjow[6]:
„Ich danke Gott, der es nicht zuließ, dass wir über unsere Kräfte
versucht und gezwungen würden, die heilige Kirche gänzlich oder in ihren
Teilen einer unheilbaren und bislang unbekannten Krankheit auszusetzen,
da wir an die Unterteilung von Christen, die in demselben Taufbecken
wiedergeboren wurden und in derselben Stadt und Diözese leben, nicht
gewohnt sind.“[7]
Inzwischen
begannen die Bulgaren, die administrative Struktur des Exarchats zu
errichten. Es war notwendig, ein provisorisches Verwaltungsorgan zur
Vorbereitung der Satzung einzusetzen, welches laut Artikel 3 des Fermans
die innere Verwaltung des Bulgarischen Exarchats bestimmen sollte.
Das
erste Kirchliche Nationale Konzil fand in Konstantinopel vom 23.
Februar bis zum 24. Juli 1871 unter der Leitung von Metropolit Hilarion
von Lowetsch statt. Die vom Konzil verabschiedete Satzung wurde der
Hohen Pforte zur Bewilligung übergeben, von der osmanischen Regierung
aber nie in Kraft gesetzt. Eines der Hauptprinzipien dieses Dokuments
war die freie Wahl: auf alle kirchlichen Posten (einschließlich
Exarchatsbeamten) wurden Kandidaten nicht ordiniert, sondern gewählt.
Laien als Mitglieder von gemischten Räten waren dazu berufen, im
kirchlichen Leben eine wichtigste Rolle zu spielen.
Einige
Zeitgenossen standen diesem Prinzips ziemlich ablehnend gegenüber: „
Wahrhaft, Laien agieren meist noch heftiger als Geistliche; sie ziehen
ihre Hirten mit, anstatt von ihnen geleitet zu werden; und dasselbe
sehen wir bei den Griechen, auch wenn sie sich wie auch die Bulgaren
darum bemühen, der Sache einen kirchlichen Anstrich zu geben…
Es
ist auch traurig, daran zu denken, wer diese profanen Leiter der
geistlichen Väter sind: weltliche, ehrgeizige Menschen mit guter
Ausbildung, teilweise Ausländer, die sich mehr mit irdischen Interessen
beschäftigen als mit kirchlichen Problemen, die sie geistlich kaum
durchdringen.
Ich
wiederhole: es wäre beängstigend, wegen ihnen exkommuniziert zu werden,
auch wenn diejenigen, die so gnadenlos exkommunizieren, Unrecht haben!“[8]
Der
neue Patriarch von Konstantinopel, Anthimos VI., der 1871 gewählt
wurde, war bereit, Wege der Versöhnung mit der bulgarischen Partei zu
finden, wofür er seitens der prohellenistischen Partei hart kritisiert
wurde. Die Mehrheit der Bulgaren bat aber den Sultan, die völlige
Unabhängigkeit des Bulgarischen Exarchats von dem Patriarchat von
Konstantinopel anzuerkennen. Dieser Streit führt dazu, dass die Hohe
Pforte den Ferman vom Jahre 1870 im Alleingang in Kraft setzte. Am 11.
Februar 1982 erteilte die osmanische Regierung eine Genehmigung zur Wahl
eines Exarchen von Bulgarien. Bereits nach fünf Tagen wurde Metropolit
Anthimos I. von Vidin gewählt und am 23. Februar 1982 in seinem neuen
Rang offiziell bestätigt. Am 17. März traf er in Konstantinopel ein, um
sein Amt aufzunehmen. Am 2. April 1982 erhielt Anthimos einen Berât
(Erlass) vom Sultan, der seinen Aufgabenbereich als Hauptvertreter der
orthodoxen Bulgaren festlegte. Doch erkannte die Patriarchie von
Konstantinopel diese Akte nicht für legitim an.
Der
bulgarische Exarch Anthimos schrieb an Murawjow am 12. April 1872: „Was
kann ich aber für die Ressentiments, die die Ökumenische Patriarchie
mir und unserem ganzen Volk gegenüber hat?(…) Infolge dessen kann aber
das fromme bulgarische Volk, das sehnsüchtig darauf wartet, die
erwünschten Rechte zu erhalten, sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen
lassen (…)
Die
Gründe für diese traurige Lage sind die Vernichtung der Unabhängigkeit
der Bulgarischen Kirche, die Fahrlässigkeit der nach Bulgarien
geschickten geistlichen Leiter und Hirten gegenüber der spirituellen
Erziehung ihrer Herde, und die Verachtung, mit der die Hirten diese
jungen Kinder der Orthodoxen Kirche behandelten.“[9]
Am
11. Mai 1872, am Fest der heiligen Brüder Kyrill und Method, leitete
Exarch Anthimus I. zusammen mit drei Erzbischöfen trotz Verbots des
Patriarchen einen feierlichen Gottesdienst. Im Anschluss daran verlas er
eine Urkunde, in der die Wiederherstellung der unabhängigen
Bulgarischen Orthodoxen Kirche verkündet wurde. Es wurden Metropoliten
des Exarchats ordiniert, die am 28. Juni 1872 von der osmanischen
Regierung Berâts erhielten, die ihre Ordinierung bestätigten. Die
Kathedra des Exarchen blieb bis November 1913 in Konstantinopel, und
wurde dann von Exarch Josef I. nach Sofia verlegt.
Auf
der Tagung des Synods der Patriarchie von Konstantinopel, die vom 13.
bis zum 15. Mai 1872 stattfand, wurde Exarch Anthimos des Amtes enthoben
und abgesetzt, die Metropoliten Panaret von Plowdiw und Hilarion von
Lowetsch exkommuniziert und Bischof Hilarion von Makariopolis für ewig
verbannt. Alle Hierarchen, Kleriker und Laien des Exarchats wurden mit
Kirchenstrafen belegt.
Im
August und September 1872 fand in Konstantinopel ein Konzil statt, an
dem Hierarchen des Patriarchats von Konstantinopel teilnahmen (darunter
die ehemaligen Patriarchen Gregor VI. und Joachim II.), außerdem
Patriarch Sophronios von Alexandria, Hierotheos von Antiochia und Kyrill
von Jerusalem (der allerdings die Sitzungen bald verließ und sich
weigerte, die Beschlüsse des Konzils zu unterzeichnen), Bischof
Sophronios von Zypern sowie 25 Bischöfe und einige Archimandriten
(darunter Vertreter der Kirchen von Hellas).
Zum
Zeitpunkt des Konzils „war das Schisma bereits stark fortgeschritten“,
lesen wir in dem Buch von Iwan Sokolow. „Durch ihre Eimischung
bekräftigte die Hohe Pforte die Bulgaren in ihrem Phyletismus, während
die griechischen Laien durch ihren Druck auf den Patriarchen und den
Synod jegliche Möglichkeit von Zugeständnissen in diesem Kirchenstreit,
der zu einer nationalpolitischen Angelegenheit geworden war,
zunichtemachten. Daher setzte das Konzil von Konstantinopel am 16.
September 1872 die Bestimmung über das kirchliche Schisma der Bulgaren
in Kraft.“[10]
Das
Konzil von Konstantinopel begann seine Tagungen am 29. August 1872. Es
wurde ein spezieller Ausschuss zur Vorbereitung eines Vortrags über das
Fehlverhalten der Bulgaren gebildet. Dieser Vortrag wurde am 12.
September gehalten. Er bot eine historische Übersicht über die
Entwicklung dieses Kirchenstreits, eine Auslegung des nationalen
Prinzips in der Kirche als Häresie des Phyletismus und eine Analyse der
„antikanonischen“ Taten der Bulgaren. Am 16. September verabschiedete
das Konzil einen Akt über die Exkommunikation von bulgarischen Bischöfen
und einen Horos, der die Bulgarische Kirche für schismatisch erklärte.[11]
Am nächsten Tag wurde der Horos in der Patriarchenkirche und innerhalb
einer Woche in allen griechischen Gotteshäusern von Konstantinopel
verlesen.
Zur
kanonischen Berechtigung dieses konziliaren Beschlusses äußerten viele
Theologen ihre Meinungen. Als Gegner der Anerkennung dieser
Exkommunikation trat Erzbischof Makarij (Bulgakow) ein.
1873
fasste Erzbischof Makarij von Litauen (zukünftiger Metropolit von
Moskau) ein Memo zusammen, das dem griechisch-bulgarischen Problem und
vor allem der Analyse der Beschlüsse des Konzils von Konstantinopel 1872
gewidmet war.
„Sündlos
sind nur Ökumenische Konzile, während Landeskonzile fehltreten und von
der Wahrheit abweichen können; das wurde bedauerlicherweise auch durch
das Konzil von Konstantinopel bestätigt… Es verurteilte sie [die
Bulgaren] für ihren Phyletismus bzw. ihren Wunsch, ihre Volkskirche
wiederzuerrichten, ganz ungerecht“, schrieb der hl. Erleuchter Makarij.
„Wir sind nicht berechtigt, sie für Schismatiker zu halten; solch ein
Urteil hätte auch nicht die Kraft, sie zu exkommunizieren.“[12]
Nach
Meinung des Erzbischofs Makarij wäre es auch ungerecht, den Phyletismus
für eine Häresie zu halten, denn die Existenz verschiedener Kirchen für
verschiedene Nationalitäten sei eine uralte orthodoxe Praxis, die weder
der evangelischen Lehre über die Einheit aller Gläubigen in Christum
noch dem Dogma über die Einheit der Kirche Christi widerspreche. Dafür
spricht auch die Tatsache, die nicht-griechische Diplomaten und
kirchliche Aktivisten konstatierten, dass sich die Patriarchie von
Konstantinopel im Streit mit den Bulgaren die nationalen griechischen
Interessen zur Richtlinie gemacht hatte, als sie sich weigerte, die
bulgarische kirchliche Unabhängigkeit zuzulassen. Eigentlich gehörte
dieses auf dem Konzil von Konstantinopel diskutierte Problem weder zur
orthodoxen Dogmatik noch zum kanonischen Recht, wie das Konzil es
ausgelegt hatte, sondern war Angelegenheit der Kirchenleitung.
Außerdem
fehlte den auf dem Konzil anwesenden Bischöfen die geistliche Freiheit,
die für eine unbefangene Besprechung der Streitfragen notwendig gewesen
wäre. Auch die zu beschuldigenden bulgarischen Erzbischöfe hatten nicht
die Möglichkeit, sich so zu verteidigen, wie es die historische Praxis
der Ökumenischen Konzile vorgesehen hätte.
Drittens
war das Konzil zu Konstantinopel kein Ökumenisches, sondern ein
Landeskonzil, und seine Beschlüsse waren insofern nicht bindend für die
gesamte Orthodoxie.[13]
Außerdem
nahmen an dem Konzil keine Vertreter der Russischen, der Rumänischen
und der Serbischen Kirche teil. Der Patriarch Kyrill von Jerusalem
unterzeichnete den Beschluss über das Schisma nicht. Der Synod der
Kirche von Antiochia widersprach seinem Oberhaupt, Patriarch Hierotheos,
so dass die vom Patriarchen erteilte Zustimmung zum Beschluss des
Konzils nicht die Meinung der gesamten Kirche von Antiochia wiedergab.[14]
Die
Gründe, die Patriarch Kyrill von Jerusalem bewegt hatten, die
Verordnung des Konzils nicht zu unterzeichnen, erfahren wir aus seinem
Brief an Murawjow vom 28. Januar 1873: „Nachdem wir im Juli vorigen
Jahres auf Einladung Seiner Heiligkeit des Ökumenischen Patriarchen von
Jerusalem nach Konstantinopel gekommen waren und Näheres über die
Angelegenheit erfahren hatten, fanden wir, dass Alle sehr aufgeregt
waren durch das Geschrei des Pöbels und voreingenommene Meinungen, die
nichts anderes als bloße nationale Antipathien schürten. Aus diesem
Grund unterstützten wir den falschen Schritt, den die Kirche von
Konstantinopel unvernünftigerweise getan hatte, nicht.“[15]
Eines
der Argumente, die die Unbefangenheit des Beschlusses des Konzils von
Konstantinopel in Zweifel ziehen, führt Mirawjow in seinem Brief an den
Ökumenischen Patriarchen Antimos vom 11. Oktober 1872 an: „Der Abfall
der Kirche von Hellas war abrupt geschehen, ohne jede vorbereitende
Verhandlung, zur gleichen Zeit mit der politischen Ablösung des
Königtums vom Osmanischen Reich. Obwohl die Gemeinschaft verletzt worden
war, war diese Kirche weder katholisch
und offiziell als schismatisch erklärt, noch waren ihre Bischöfe
exkommuniziert oder abgesetzt worden. Sie wurde auch nicht der neuen
Häresie des Phyletismus beschuldigt, die jetzt den Bulgaren, da sie
verschiedenen Stämmen angehören, nachgeredet wird, während die Griechen
eines gemeinsamen Stammes seien. Und was nun? Dieselben Hellenen von
Athen, die ihre eigene langjährige Entfremdung von der kirchlichen
Einheit offenbar vergessen haben, sind nun Betreiber der Verurteilung
der Bulgaren und ihre heikelsten Gegner!“[16]
Nachdem
wir nun die Geschichte der Verkündung der Autokephalie der Bulgarischen
Kirche 1872 kurz beleuchtet haben, wollen wir versuchen dieses
historische Ereignis zu bewerten.
Quellen der Autokephalie der Bulgarischen Kirche
Es
ist offensichtlich, dass die Bulgarische Kirche vor 1872 dem
Patriarchat von Konstantinopel angehört hatte. Deshalb konnte die
einzige kanonische Quelle der Autokephalie der Bulgarischen Kirche ein
Beschluss eines Landeskonzils der Kirche von Konstantinopel sein. Solch
einen Beschluss gab es bekanntlich nicht. Aus Sichtweise der
kirchlichen Kanones konnte die selbstverkündete Autokephalie der
Bulgarischen Kirche bis zu ihrer Anerkennung durch die Ökumenische
Patriarchie somit nicht als legitim gelten.
In
Wirklichkeit gibt die Geschichte dieser Anerkennung zu denken. Im Jahre
1945, 73 Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen, bezeichnete das
Patriarchat von Konstantinopel das bulgarische Schisma als
„Anachronismus“. Es wurde ein „Protokoll über die Abschaffung der
langjährigen Anomalie im Leib der heiligen Orthodoxen Kirche“
unterzeichnet[17]und
damit anerkannt, dass dieser Konflikt verjährt und der Kirchenbann
wegen der „Häresie des Phyletismus“ aus dem Jahre 1872 de facto als
„inexistent“ betrachtet werden könne. So war es letztlich die
Patriarchie von Konstantinopel, die ihren Standpunkt änderte und „büßen
musste“. Was aber die Bulgarische Kirche betrifft, blieb sie nicht bei
ihren 1872 verkündeten Prinzipien.
Manche
moderne Aktivisten (zum Beispiel ukrainische Schismatiker aus dem
„Patriarchat von Kiew“) versuchen, diese Tatsache als Präzedenzfall
auszulegen, der die Existenz von selbstverkündeten Autokephalien
berechtige. Doch diese Schlussfolgerung ist nicht aufrichtig. Zustimmung
und Konzilsbeschluss der Mutterkirche sind nicht hinreichend für eine
Autokephalie. Auch die Zustimmung der anderen autokephalen Kirchen ist
wichtig. Eine neue autokephale Kirche muss brüderliche Beziehungen mit
allen Landeskirchen knüpfen. Das ist der Punkt, in dem sich das
Bulgarische Exarchat radikal von den ukrainischen Schismatikern, die von
keiner Landeskirche anerkennt werden, unterscheidet. Was aber die
Bulgarische Kirche betrifft, pflegte sie in den Jahren des Schismas
ziemlich enge Beziehungen vor allem mit der Russischen Kirche, die
inoffiziell versuchte, eine Versöhnung der Kirchen und die Aufhebung des
Schismas herbeizuführen.[18] Unter anderem äußerten sich die Beziehungen der Russischen und der Bulgarischen Kirchen im Folgenden:
Der
russische Synod spendete der Bulgarischen Kirche gottesdienstliche
Gewänder, Bücher und Gerätschaften, und er beschäftigte sich mit den
juristischen Angelegenheiten der Kirche im Bulgarischen Fürstentum.
Auf
Bitte des Bulgarischen Exarchen nahm der Russischen Synod Bulgaren in
russische geistliche Schulen auf und vergab Stipendien.
Einige
Hierarchen der Russischen Kirche belieferten die Bulgarische Exarchie
mit geweihtem Myron, so etwa Erzbischof Sergij von Kischinau, Metropolit
Platon von Kiew sowie Metropolit Palladij von St. Petersburg.
Einige
russische Bischöfe gestatteten niederrangigen bulgarischen Klerikern
nach Gutdünken und Belieben mit russischen Geistlichen zu dienen,
während bulgarische Geistliche, die in russischen geistlichen Seminaren
und Akademien studierten, an der Verrichtung von Gottesdiensten in
Gotteshäusern dieser geistlichen Schulen teilnahmen. Während des
russisch-türkischen Krieges 1877–1878 dienten Vertreter des russischen
Armeeklerus in bulgarischen Gotteshäusern zusammen mit bulgarischen
Klerikern.
Die
Patriarchie von Konstantinopel hielt diese Zusammenarbeit des
russischen Klerus mit der Bulgarischen Kirche für einen Akt der Leugnung
des Schismas durch die Russische Kirche, was 1878 schriftlich
ausgedrückt wurde. Der Russische Heiligste Synod antwortete, dass er mit
dem Beschluss des Konzils zu Konstantinopel vom 1872 über das
bulgarische kirchliche Schisma nicht einverstanden sei, aber - da er zur
Versöhnung zwischen Bulgaren und Griechen beitragen möchte - davon
ausgehe, nach der 1. Regel des heiligen Basilios dem Großen, welche
zwischen Häresie, Schisma und eigenwilliger Versammlung[???]
unterscheide, dass die Bulgaren ach nach dem Konzil vom 1872 keine
Schismatiker seien. Wenn die Bischöfe und Priester des Exarchats eine
Vereinigung mit der durch sie verurteilten Kirche wünschen sollten,
könnten sie nach entsprechender Buße in ihre aktuellen Ränge aufgenommen
werden.
Auch
wenn der Russische Heiligste Synod diese Sichtweise auf die
bulgarisch-griechischen Beziehungen einnahm, vermied er lange die volle
kanonische Gemeinschaft mit der Bulgarischen Kirche.
Bedingungen und Faktoren der Autokephalie
Bei der Bulgarischen Kirche lagen besondere Bedingungen bzw. Faktoren der Autokephalie vor.
Vor
allem war die Bulgarische Kirche bereits vor den beschriebenen
Ereignissen autokephal gewesen, und zwar mehrere Jahrhunderte lang. Es
ging also lediglich um die Wiedererrichtung eines alten Status Quo.
Zudem
gab es unter Bischöfen, Klerikern und Laien starke Bestrebungen, die
kirchliche Unabhängigkeit zu erhalten. Laut 112. und 132. Regel des
Konzils zu Karthago soll im Falle umstrittener Jurisdiktion der Wunsch
des Volkes Gottes berücksichtigt werden.
Und
was den Hauptpunkt bei der Gewährung der Autokephalie angeht, das „Wohl
der Kirche“, so hätte dieses in der historischen Situation Mitte des
19. Jahrhunderts zweifellos im kirchlichen Frieden gelegen hätte, der
hätte erreicht werden können, wenn das Patriarchat von Konstantinopel
den Ferman des Sultans von 1870 und die nach diesem Dokument errichtete
Bulgarische Exarchie anerkannt hätte.
Unsere
Übersicht über die damaligen Ereignisse möchten wir mit einem Zitat aus
einem Artikel von I.E. Troizkij abschließen, das mit dem Problem
zusammenhängt, das Protopresbyter Alexander Schmemann in seinem Artikel
„Bemerkenswerter Sturm“ («Знаменательная буря»)[19]
beleuchtet. Es geht darum, dass das Patriarchat von Konstantinopel dazu
tendiert, die Realien des Byzantinischen Reiches mittels spezieller
Anpassungen ins moderne Leben zu übertragen.
„Bulgarien
verlor seine kirchliche Autokephalie 1767. Ob dies auf Wunsch der
Bulgaren geschah, die angeblich selbst den Patriarchen Samuel von
Konstantinopel um Aufnahme in sein Patriarchat gebeten hatten, wie es
die Griechen behaupten, oder gegen ihren Willen, durch Gewalt und
Betrug, wie die Bulgaren beteuern, soll hier keine Rolle spielen. Auch
eine freiwillige Unterordnung zu irgendeinem Zeitpunkt und unter
besonderen Umständen sollte nicht die totale Unterordnung für alle
Zeiten und unter allen Umständen zur Folge haben. In den 1950er Jahren
wünschte Bulgarien diese verlorene Autokephalie zurückzuerlangen. Aber
anstatt diesem Wunsch nachzukommen, beschuldigte die Kirche von
Konstantinopel die Bulgaren des Phyletismus und bezeichnete sie auf dem
Konzil von Konstantinopel 1872 als Schismatiker. Formal hatte sie Recht,
da in der Gesamtentwicklung des kirchlichen und politischen Lebens des
Orients zwei Kirchen innerhalb eines Staates nicht vorkamen; nur jene
Völker erhielten das Recht auf eine autokephale Kirche, die auch einen
selbstständigen Staat bildeten, obwohl die Gleichsetzung des Türkischen
Reiches mit Byzanz in diesem Falle unangemessen war. Die Beziehungen
zwischen Kirche und Staat waren aber in der Türkei ganz andere als im
Byzantinischen Reich.“[20]
In
der Geschichte der Wiedererrichtung der Autokephalie der Bulgarischen
Kirche im 19. Jahrhundert sind die Verordnungen des Konzils von
Konstantinopel 1872 besonders bemerkenswert.
Wir, die, der Russischen Kirche folgend, mit der Exkommunizierung der Bulgaren nicht einverstanden sind[21],
können das Problem des Phyletismus nicht außer Acht lassen. Das Studium
mehrerer historischer Zeugnisse und des griechisch-bulgarischen Disputs
lässt die paradoxe Schlussfolgerung zu, dass nicht nur die Bulgaren,
sondern auch die Griechen zum damaligen Zeitpunkt dem Phyletismus
verfallen waren. Es war eben der griechische Nationalismus, der die
langwierigen Verhandlungen in eine Sackgasse brachte und zu den rigiden
Entscheidungen führte, die 1872 im Kirchenbann gipfelten.
Phyletismus
ist ein Extrem, das jeder autokephalen Kirche droht, wenn nationale
Ideen und Prinzipien zu hoch gehoben werden. Wir können aber kein
Patentrezept nennen, wie der Universalismus der Kirche mit dem
nationalen Prinzip zu vereinen wäre. Hier lässt sich eine Parallele zum Dogma von Chalcedon erkennen, das durch die vier berühmten „Nein“ apophatisch ausgedrückt ist.
Also
können wir in unserem Falle nur bezeugen, dass die Orthodoxie das
nationale Prinzip nicht verwirft, also nicht wie die Römisch–Katholische
Kirche zum Universalismus neigt, aber eben auch nicht zu Nationalismus
in seiner extremen Form (Phyletismus). Die orthodoxe Ekklesiologie
strebt, sowohl theoretisch als auch praktisch, nach einer unvermischten und unteilbaren Einheit von Universalismus und nationalem Prinzip im kirchlichen Leben.
[1]Снегаров И. Взаимоотношения
Болгарской и Русской Православных Церквей до и после провозглашения
схизмы (1872 год) // Годишник на Духовната академия. 1952. Т. 2 (27). С.
201–207.
[2]Герд Л.А. Константинополь и Петербург: церковная политика России на православном Востоке (1878–1898). М., 2006. С. 234.
[3]Българската екзархия: сборник документи от архивните фондове на Народна библиотека «Иван Вазов». Пловдив, 2003. С. 43.
[4]Документи
за българската история. Архив на Найден Геров. 1857–1876 / Подреден от
Т. Панев, под редакцията на М.Т. Попруженко. София, 1932. Т. 1. С.
547–548.
[5]Снегаров И . Взаимоотношения Болгарской и Русской Православных Церквей до и после провозглашения схизмы (1872 год). С. 207.
[6]Andrej Murawjow (russ. Андрей Николaевич Муравьёв, 30.
April 1806 – 18. August 1874) war Kammerherr am russischen Zarenhof,
orthodoxer Schriftsteller und Kirchenhistoriker, Pilger und Reisender,
Dramaturg sowie Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften.
(Anm.d.Ü.)
[7]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу // Труды Киевской духовной академии. 1873. Т. 1. С. 106.
[8]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу. С. 114.
[9]Ebenda, S. 110–111.
[10]Соколов И.И . Константинопольская Церковь в XIX веке: Опыт исторического исследования. СПб., 1904. С. 650–651.
[11]Den Text dieser Entscheidung in russischen Übersetzung gibt es in: Макарий , митрополит. Греко-болгарский церковный вопрос и его решение // Православное обозрение. 1891. № 11–12. С. 734–735.
[12]Ebenda. S. 750, 754.
[13]Теплов В. Греко-болгарский церковный вопрос по неизданным источникам. СПб., 1889. С. 121–132.
[14]Маркова З. Българската екзархия. 1870–1879. София, 1989. С. 51–52.
[15]Муравьев А. Переписка с восточными иерархами по греко-болгарскому делу. С.143.
[16]Ebenda. S. 136.
[17]Косик В.И., Темелски Хр., Турилов А.А. Болгарская Православная Церковь // Православная энциклопедия. Т. 5. М., 2002. С. 638.
[18]Христов Иоанн. , протоиерей. Русско-болгарские церковные отношения в годы болгарской схизмы // Журнал Московской Патриархии. 1976. № 8. С. 48.
[20]Троицкий И.Е. Церковная сторона болгарского вопроса. СПб., 1888. С. 17–18.
[21]Es
gibt nämlich den kirchlich-theologischen Begriff der „Rezeption“, also
die Aufnahme konziliarer Beschlüsse durch die Kirche (S.: [Anton
Kartaschow] Карташев А.В. Вселенские Соборы. СПб., 2002. С. 240).